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Schaukeln & Tränen

Nacht Nummer Drei steht an und ich kann sagen, dass sich alles verändert. Die Konversationen werden flüssiger. Der Geruch wird schwächer. Nach nicht einmal einer Minute gewöhnt man sich an den Geruch und es ist gut endlich eine funktionierende SIM-Karte zu besitzen. 
Der Tag heute war anders – besser. Die bösen Gedanken rückten immer weiter in den Hintergrund und ich konnte mich etwas entfalten in der Gruppe. Ich bin angekommen. Eigentlich war es gestern, wo ich angekommen bin. Am ersten Tag fragten mich einige der Anderen, ob ich denn immer so leise sei, was alles nicht leichter machte, doch als wir gestern im Pub saßen, ein Bier tranken und über Covid und Erfahrungen im Haus erzählten, kam alles ins Laufen. Ich mag diese Gespräche. Gespräche bei denen ein jeder die gleiche Sprache beherrscht, jedoch nur bis zu einem gewissen Grad. Gespräche, bei denen man ein Drittel nicht versteht und trotzdem genau weiß, was der andere meint. Um elf wurden wir gebeten zu gehen und das taten wir auch. Wir gingen Richtung Haus, Jade holte sich ein Glas Müsli und dann machten wir uns auf den Weg zum berühmten Park. Mir wurde erzählt, es sei eine Art Tradition: Die Gruppe geht mit jeder neuen Person zum Park, immer bei Nacht. Genau das taten sie auch mit mir. Jibs erzählte mir wieder historische Geschichten über die kleine Stadt und als wir dort waren saßen wir auf einem Hügel wo eine Spielplatzburg gebaut wurde. Ramon erzählte von explodierenden Sternen und Jibs begann über Tiefgründiges zu sprechen. Ich weiß, dass mich solche Gespräche extrem traurig machten, also wollte ich anfangs weghören. Sterne beobachten macht mich unfassbar traurig, da es einfach so viel gibt, das ich nicht verstehe. Wir sind so klein, auf so einem kleinen Planeten, in so einem kleinen System. Unser Leben ist so kurz und unwichtig. Wir fühlen uns mächtig, denken wir haben den Himmel mit mickrigen Flugzeugen erobert, doch in Wirklichkeit gehört uns gar nichts. Wir sind nichts. Und doch sind wir alles, was wir haben. Das einzige, das die Menschheit besitzt sind die Menschen und wenn wir irgendwann nicht mehr da sind, ist nur noch die stille da, die sich alles zurückerobern wird, was sie einst ihr Reichtum nannte. 
Das ist der Grund, warum ich nicht gerne in die Sterne schaue. Zu viele Gedanken. Zu viele Fragen auf die ich keine Antwort weiß. Wir sprachen über Gott und alle erzählten von ihrer Ansicht dazu. Wenn einer sprach, war ein jeder ruhig. Jedem wurde zugehört und jede Antwort wurde mit stillem Nicken aufgenommen. 
Dann rannte Sergio zur Zipline und sagte, ich solle es unbedingt probieren. Also nahm ich Anlauf und schwang in Richtung des gegenüberliegenden Masten und wieder zurück. Inzwischen saß Jade auch schon auf der Reifenschaukel und dreht sich. Und drehte sich. Und drehte sich. Und plötzlich drehte sie sich nicht mehr und sie stand auf, ohne sich zu übergeben. Dann fiel mir später nicht so leicht. Doch es waren diese paar Augenblicke, in denen ich auf der Schaukel lag, mich im Kreis dreht, die Welt um mich herum kaum mehr wahrnahm, da sich alles so schnell bewegte, in denen ich mich an diesen Ort willkommen fühlte. Es war ein Ritual dass ich erfolgreich bestand.


Heute wachte ich spät auf, es war nach zehn Uhr. Doch ich glaube, es ist normal hier – die Zeit funktioniert etwas anders in diesem Haus. Claire erzählte mir, dass dieses Haus irgendetwas an sich hatte, etwas Komisches. Einmal sind es Gesichtscreme die den Platz wechseln ein anderes Mal Kopfhörer, die umherwandern. Der Workshop begann um halb 12 und es stand Bücherfalten auf der Tagesordnung. Langweilig, ich weiß. Genau das dachten sich vier der sechs Kinder, die wir heute betreuten, also entschieden sie sich für Kuscheltiere basteln. Ich sah eine Nähmaschine und meinte, ich könne gerne beim Nähen helfen und Stefanies Augen begannen zu leuchten. Sie war richtig aufgeregt, dass ich nähen konnte und war so glücklich als ich ihr zeigte, wie man den Faden richtig einfädelte. Auch Andrea war begeistert und wollte mitmachen. Ich zeigte es ihm und er begann Probestücke zu machen. Bei jedem neuen Skill den er lernte, freute er sich wie ein Kind. Dann half ich den Kindern mit ihren Stofftieren und wir kreierten einen Panda, eine Schildkröte und zwei Faultiere. Alles wurde lustig dekoriert und verziert und die Kinder wirkten happy. Nach der Arbeit erledigte ich den Einkauf, da ich mich freiwillig zum Kochen meldete, (Lieber früher als später) die Motivation war einfach da. Ich brauchte ja auch unbedingt eine neue SIM-Karte, da meine Rechnung höllisch ist, keine Ahnung woher. 


Ich meldete mich freiwillig fürs Kochen, Chilli sollte es werden. Doch als ich im Supermarkt stand und die Zutaten zusammen zu sammeln merkte ich ziemlich schnell, warum England bekannt für schlechtes Essen ist. Warum gibt es so viele baked Beans? Die Designs auf den Dosen sind ziemlich unappetitlich, der Inhalt ganz normal.
Anyways. Das Chilli schmeckte ziemlich gut – zum Glück, ich hatte richtig Angst gleich zu Beginn schlechtes Essen zu kochen. Mir wurden dann einige Horrorgeschichten erzählt, als Leute im Haus schrecklich gekocht haben. Rohe Eier und verbrannte Nudeln… Zum Glück sind alle Leute, die momentan hier wohnen gute Köche. Apropos Leute, ich habe auch erfahren wie viele Leute schon in diesem Haus wohnten. Dreihundert, geschätzt. Vielleicht mehr. Das erklärt so einiges. Das System finde ich erstaunlich. Ein Haus, das von den Leuten geführt wird, die gerade hier wohnen. Niemand, der fixe Regeln macht. Niemand der kontrolliert was abgeht. Anscheinend ändert sich der Zustand des Hauses, abhängig von den Leuten die gerade hier sind. Vor einigen Monaten war ziemlich viel Schimmel hier, doch die Gruppe danach hat alles entfernt. Momentan ist alles ziemlich sauber und es hängen Zeichnungen überall. 
Ist es ein gutes System? Ich weiß es nicht. Momentan ist schon!

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Mir fällt erst jetzt auf, dass ich die Tränen vom Titel nicht erwähnt haben. Well... Sie kamen vom Zwiebelschneiden. Sorry hehe 

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